Page 22 - Leseprobe - Vom Brot im Meer
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und ihr Kleinkind auch in Auschwitz verloren. Dies war
          der Ort, wohin die meisten ungarischen Juden gebracht
          wurden, um sie dort zu ermorden. Ich wusste auch vom
          Schuldgefühl meines Vaters, von dem er sich niemals be-
          freien konnte, dass er diese furchtbare Zeit überlebte
          hatte, während seine gesamte Familie umgekommen war,
          ohne dass er jemandem helfen hatte können.
            Das Treffen mit Joshka berührte ihn sehr, aber auch
          meine Mutter und wir Kinder waren tief betroffen von
          den Erzählungen Joshkas. Meine Mutter hatte Tränen in
          den Augen, ich versuchte wegen meiner Kinder Reuven
          und Daphne zu lächeln und so gut es ging meine Tränen
          zu unterdrücken.
            „Weißt du, Joshka“, sagte mein Vater als sie ihre Um-
          armung lösten, „ich erinnere mich, dass du, Joshka, ein
          sehr guter Geigenspieler warst. Die ganze Familie sprach
          von dir und deiner Geige, die einen solch wunderbaren
          Klang hatte, wie der einer Stradivari.“
            „Ja, ja“, sagte Joshka langsam und traurig, „ich er-
          innere mich gut an diese Zeiten mit meiner Familie. San-
          dor, ich erinnere mich auch an die Geige.“ „Spielst du
          noch?“, fragte mein Vater. Joshka schüttelte den Kopf
          und sah auf seine Hände. Ich sah, dass viele seiner Fin-
          ger stark verkrüppelt waren. „Nein“, sagte er. „Sie nah-
          men mir die Geige bei meiner Ankunft im Lager weg und
          schickten mich zur Zwangsarbeit in einen Steinbruch.
          Wir hatten keine Werkzeuge für die schwere Arbeit, nur
          unsere Hände. Der Aufseher meinte, dass meine Arbeit
          nicht gut genug war, und schlug mir zur Strafe mit einem
          schweren Stein auf die Finger. Sandor, ich werde dir er-
          zählen, wie es dort zuging, und wie man jahrelang in
          einer Hölle existierte!“ Er begann wieder zu weinen.
          „Aber zuerst müssen wir unsere Kinder finden! Was ist
          mit ihnen geschehen?“
            Unser Mitgefühl für Joshka und seine Kinder war tief
          und trotz des Schmerzes, das sein Schicksal in uns aus-
          löste, verstanden wir sein Bedürfnis über Auschwitz zu
          sprechen.
            Er  blieb  zum  Mittagsessen  bei  uns,  und  wir  sahen,


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