Page 21 - Leseprobe - Vom Brot im Meer
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Der Ungar schüttelte den Kopf. Er schien eine große
            Bürde zu tragen. „Man trennte uns dort. Wir haben uns
            nicht mehr gesehen! Gott weiß, wie wir diesen schreck-
            lichen Ort überlebten, aber die Hoffnung, meine Familie
            doch wiederzufinden, erhielt mich am Leben.“ Er seufz-
            te tief. „Als wir endlich befreit wurden, fand ich heraus,
            dass meine Frau noch lebte.“ Er sprach nicht mehr, ließ
            den Kopf hängen und schloss die Augen. Ich wollte wissen
            was mit seinen Zwillingstöchtern geschehen war, aber als
            ich meinen Vater ansah, merkte ich, dass er sehr bewegt
            war. Langsam hob der Ungar den Kopf. Seine Augen wa-
            ren voller Tränen: „Wo sind sie, meine lieben Kinder?“,
            fragte er. „Was ist mit ihnen geschehen? Wo sind sie?“
              Er begann zu weinen und erzählte uns, dass er und
            seine Frau Tag und Nacht ihre Kinder suchten, sie aber
            bis jetzt nicht hatten finden können. Niemand schien zu
            wissen, was mit ihnen geschehen war, nachdem man sie
            im Lager weggeführt hatte. Der arme Mann war untröst-
            lich, aber wir sahen auch, dass er sich mit großer Wil-
            lenskraft zusammennahm und weitersprach. „Sie wollen
            meinen Namen wissen?“, fragte er schließlich meinen
            Vater. „Mein Name ist Varga Joshka, und ich lebte ein-
            mal in Budapest … aber das ist nicht mehr wichtig!“
              Als mein Vater dies hörte, wurde er sehr erregt; man
            konnte sehen, dass er am ganzen Körper zitterte. „Varga
            Joshka?“, sagte er mehrmals? „Joshka Varga aus Buda-
            pest?“ Der arme Ungar runzelte seine Stirne und nickte.
            „Ich weiß genau, wer Du bist!“, rief mein Vater. „Du
            hattest ein großes Antiquitätengeschäft in Budapest mit
            vielen antiken Gegenständen, die Du so liebtest, dass Du
            sie niemals, auch nicht für sehr hohe Preise, verkaufen
            wolltest!“
              Joshka starrte meinen Vater an: „Was sagen Sie?“,
            fragte er. Mein Vater lächelte, erhob sich und öffnete sei-
            ne Arme. „Ich bin Kalmar Sandor, und du, du bist Josh-
            ka, mein lieber Vetter!“
              Stumm umarmten sich die beiden Männer. Lange blie-
            ben sie so stehen, diese Begegnung bewegte sie sehr. Mein
            Vater hatte ja seine Mutter, seine Schwester, seine Nichte


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