Page 27 - Leseprobe - Vom Brot im Meer
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erzählte, dass sie nahe von Ethel und Regina gestanden
            war. Das Kleinkind Irene hatte, seitdem es von Helen
            weggerissen worden war, zu weinen begonnen und hör-
            te nicht auf. Ein Soldat, der neben meiner Großmutter
            stand, schrie sie an und befahl ihr, das weinende Kind
            zu beruhigen: „Es macht mich nervös!“, brüllte er. Mei-
            ne  Großmutter  und  Regina  versuchten  alles  Mögliche,
            aber es weinte weiter. Da kam der „nervöse“ Soldat und
            entriss Regina das Kind. Er fasste nach den Beinen des
            Kindes und schleuderte es mit dem Kopf gegen die Wand.
              Wir waren ganz still geworden. Bosci fuhr fort: „Nie-
            mand rührte sich oder sagte etwas, als dies geschah. Eine
            bedrückende Stille trat ein. Keiner gab einen Laut von
            sich, denn alle waren zu erschüttert und erschrocken, um
            etwas zu sagen. In dieser Stille aber hörte man nur Ethels
            Stimme. Sie begann ein heftiges, ungarisches Wehklagen
            und weinte bitterlich.“ „Sie war sehr laut“, sagte Bosci,
            „denn sie war außer sich vor Schock, ihr Schmerz war so
            groß, dass niemand sie beruhigen konnte. Immerfort rief
            sie den Namen ihres Enkelkindes: ‚Irene, Irene!‘“
              Ich sah meinen Vater an. Tränen strömten aus seinen
            Augen. Sonst war er ruhig, beobachtete Bosci mit star-
            rem Blick, schien dabei aber kaum zu atmen.
              Nun war Boscis Stimme beinahe nicht mehr zu hö-
            ren. „Plötzlich hörten wir einen lauten Schuss“, sagte sie,
            „Ethel hörte auf zu weinen, … sie, … sie fiel zu Boden …
            Die Soldaten schoben sie mit den Füßen zur Seite, damit
            die gerade Linie, die sie angeordnet hatten, wieder gebil-
            det werden konnte. Niemandem war es erlaubt, Ethel zu
            berühren oder das Kind aufzuheben. Die Registrierung
            der Neuankömmlinge in Auschwitz ging weiter.“
              Mein Vater hatte die Augen geschlossen. Er war blass
            und zitterte. Bosci weinte und niemand gab einen Laut
            von sich. Joshka erzählte weiter. Man konnte seine Stim-
            me beinahe nicht mehr hören, als er Boscis Erzählung
            beendete: „Es gab eine Typhusepidemie im Lager“, sagte
            er, „und als Helen hörte, was geschehen war, trank sie
            bewusst das verseuchte Wasser und starb. Die Nazis im
            Lager töteten, vergasten, ermordeten und vergifteten uns


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