Page 29 - Leseprobe - Vom Brot im Meer
P. 29
dor“ wäre und erzählte, dass man beide, Joshka und Bo-
sci, vor einigen Tagen tot aufgefunden hätte. Niemand
wusste warum, aber sie hätten sich in ihrem Schlafzimmer
erhängt. Der Nachbar übergab meinem Vater einen ver-
schlossenen Brief.
Als mein Vater nach Hause kam, sah ich, dass er sehr,
sehr traurig war. Er sprach kaum ein Wort, und zeigte
uns den verschlossenen Brief. „Beide sind tot“, sagte er.
Es brauchte lange, bis er sich entschloß, den Brief zu öff-
nen. Schließlich tat er es, las ihn und gab ihn auch uns
zum Lesen. Es war eine kurze Nachricht. Joshka und Bo-
sci hatten einen befreiten Auschwitzin sassen getroffen,
den sie kannten und der ihnen erzählte, dass er beobach-
tet hatte, wie man ihre beiden Töchter in einen anderen
Teil des Lagers brachte. Sie wurden lebende Versuchsob-
jekte für medizinische Experimente, die man dort durch-
führte. Der Mann wusste nicht genau, was geschehen
war, aber er hörte, dass beide jungen Mädchen daran
gestorben waren. In der in Eile geschriebenen Nachricht
stand noch, dass weder Joshka noch Bosci weiterleben
konnten, da ihre Kinder sie fortwährend zu sich riefen.
Sie waren sicher, dass sie auf ihre Eltern warteten, um
wieder vereint zu sein, und dass sie sich beeilen wollten,
zu ihren geliebten Kindern zu kommen.
Das war eine allzu tragische Geschichte, die uns alle
sehr beschäftigte. Aber für meinen Vater wurde dieser
Vorfall zum Beginn eines Vorsatzes; seiner Familie mehr
über unsere Vorfahren zu erzählen und über die Art und
Weise, wie er aufgewachsen war. Er erzählte uns von da
an viele Dinge, von denen wir bis dahin nichts gewusst
hatten. Vielleicht war die Wahrheit über das entsetzliche
Ende seiner Familie der Grund dafür, dass er erkann-
te, wie wertvoll seine Erinnerungen für uns sind. Nur
dadurch, dass er über sie sprach, konnte er seine Liebe
für seine Herkunft und Familie zeigen und sich mit der
Wahrheit abfinden.
109