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Überfahrene Lebenswelt

           den angrenzenden Gebieten wie Krain, das Kronland  Kärnten,  viele
           unterschiedliche Menschen zusammen. »Adel gab es ansonsten (vorher
           war von dem Grafen Arco-Zinneberg, Inhaber des Gutes Federaun-Tar-
           vis die Rede; Anm.) im Kanaltal nicht. Seine Bauern waren nicht Leibeige-
           ne oder Hintersassen (Sammelbegriff für die vom Grundherrn abhängi-
                                                                       20
           gen Bauern; Anm.), sondern freie Bauern wie in Tirol oder Vorarlberg.«
              Häufig wird anerkennend gesagt, »dass Deutsche und Slowenen durch
           mehr als ein Jahrtausend in schönstem Frieden und in Eintracht mitein-
           ander gelebt hätten …«, führt Moritsch an. Er erklärt dazu: »Wie hätten
           Deutsche und Slowenen miteinander auch streiten sollen, wenn es sie als
           Nationalitäten, d. h. als ethnisch definierte Kollektive, als nationalbewuss-
           te und nationalistisch agierende Großgruppen bis tief in das 19. Jahrhun-
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           dert hinein gar nicht gegeben hat?«
              Im  Habsburgerreich  wurde  erst  mit  dem  Staatsvertrag  von  1867,
           und noch durchschlagender mit dem Reichsschulgesetz von 1869, die
           Sprache, die die jeweils eigene war, zu einem trennenden Faktor. Da-
           mit wurde der Weg forciert, die Nationalitätenfrage zu einem wichti-
           gen und entscheidenden Kriterium in der Entwicklung eines jeweiligen
           nationalen Bewusstseins und dem Beginn eines Prozesses zu machen
           – und dies nicht nur in diesem kleinen Gebiet. Es war ein Prozess der
           Nationalitätenbildung,  der  im  Vielvölkerstaat  der  Habsburgermonar-
           chie und weit darüber hinaus stattfand und im Politischen, wie auch in
           allen kulturellen Bereichen – in der Musik sind Smetana und Dvořàk zu
           nennen – nachzuweisen ist.
              Moritsch führt aus, dass »dieser Glaube … der Nation an sich sel-
           ber, durch die Politisierung des Ethnos passiert ist. Ethnische Kriterien wie
           Sprache, Abstammung, Tradition, Konfession und Kultur wurden … als
           volkskonstituierende Faktoren verabsolutiert und dabei durch Verallgemei-
           nerung verfälscht. Innerhalb der Mikroregion Dreiländereck (Kanaltal, das
           untere Gailtal in Kärnten, das obere Savetal und das obere Isonzotal
           – die beiden letzteren im heutigen Slowenien –, die Moritsch in einer
           Studie beforschte; Anm.) wird nun dieser Vorgang durch die spezifischen
           sprachlichen, sozialen, administrativen und politischen Gegebenheiten ver-
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           kompliziert.«  Und weiter: »Tatsache ist, dass erst der Nationalisierungs-
           prozess in der nationalen Geschichtsepoche und besonders die Homogeni-
           sierungsmaßnahmen der Nationalstaaten seit 1918 dazu geführt haben,


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