Page 14 - Leseprobe - Vom Brot im Meer
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beiden kannten sich seit ihrer Schulzeit und waren froh,
zusammenzuleben. Es gab nie ein Missverständnis zwi-
schen den drei alten Damen. Alle waren zu jeder Zeit
höflich, hilfsbereit und immer elegant. Die Freundin mei-
ner Tante war keine Jüdin, aber dies war kein Problem,
da dieser Teil der Familie nicht religiös war.
Nun aber wurde ihre Anwesenheit und Freundschaft
mit den zwei Schwestern auf eine Probe gestellt. Ein Ge-
setz der neuen Machthaber befahl, dass niemand der ein
„Arier“ war, mit Juden verkehren durfte. Aber Rosie be-
schloss, bei ihren Freundinnen zu bleiben, um ihnen bei-
zustehen. Komme was da wolle! Sie trug auch den gelben
Stern. Alle drei Damen kamen aus guten Familien, die
seit vielen Generationen in Wien lebten. Rosie war eine
Aristokratin; der Vater von Therese und Ida war Hofrat.
Alle drei sprachen jenen leichten, feinen österreichischen
Dialekt, den meistens Aristokraten verwendeten und den
ich sehr liebte. Ihren Gesprächen zuzuhören war eine
Freude für mich, aber besonders liebte ich es, wenn sie
ihre „Kammermusik“ machten. Alle drei spielten gut
Klavier und Therese spielte auf ihrer Flöte beinahe auf
professionelle Weise. Nach einem guten Mittagsessen,
serviert auf schönem Porzellan, Kammermusik zu ma-
chen, war bei ihnen eine Selbstverständlichkeit, und für
mich immer eine besonderes Erlebnis.
Am Tag, an dem ich bei ihnen eingeladen war, hatte ich
schon alles gepackt, meinen Hausschlüssel unserem An-
walt übergeben und war bereit, mich zu verabschieden.
Zum Glück besaß ich einen amerikanischen Reisepass, so
dass für mich kein Problem entstehen sollte. Ohne mei-
ne Schwester ging ich die Treppen hinauf zur Wohnung
meiner Verwandten und klingelte. Die Tür ging auf und
zu meinem Schrecken sah ich, dass alle drei Damen in
der Diele mit verweinten Gesichtern und geröteten Au-
gen standen. Als ich sie fragte, ob etwas geschehen war,
bejahten alle drei diese Frage und begannen nochmals
zu weinen. „Der Zement hat unser Geld zerrissen“, sag-
ten sie. Ohne etwas anderes zu sagen, zogen sie mich ins
Speisezimmer. Dort hing immer ein Ölgemälde, ein gro-
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