Page 14 - Als die Füße sprechen lernten
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Karin S. Mayr
zeigt in voller Pracht, was in ihm steckt. Wir wissen nun, dass der Körper mit
uns spricht. Wie aber kann man diese Sprache deuten?
Die Eingebung
Nachdem ich meine Ausbildung zum Heilmasseur absolviert hatte, jobbte ich
in Krankenhäusern. Ich durfte viele Erfahrungen im Umgang mit Patienten
sammeln, aber auch mit bestehenden Systemen und Kollegen. Es war eine sehr
lehrreiche Zeit. Lange aufgestaute und an mir abgelassene Aggressionen sei-
tens der Patienten durften mir nichts ausmachen, ebenso wenig die verschie-
densten Krankheitsbilder und persönlichen Schicksale von Jung und Alt. Auch
musste ich lernen, mit Niederlagen zu leben. Ich musste akzeptieren, dass ich
nicht jedem helfen konnte. Es war aber auch eine Zeit mit vielen schönen Er-
lebnissen und zahlreichen Geschichten von Patienten, die mir unter die Haut
gingen. Eigentlich waren es die hilfesuchenden und anlehnungsbedürftigen
Menschen, die mich dazu bewogen haben, mich selbst zu finden. Ich habe
beschlossen, mein Hobby, Menschen zu helfen, zu meiner Berufung zu ma-
chen. So gut mir die Arbeit als Therapeutin auch gefallen hat, so habe ich doch
auch die Individualität vermisst. Menschen wurden durch ein System ge-
schleust, mit einem Befund und einer Therapieempfehlung in der Hand, die
durchgezogen werden musste. Ob sie half oder nicht. Manchmal war es zu
viel, manchmal aber auch eine Untersuchung – aus Kostengründen – zu wenig.
Zeit für aufklärende Gespräche blieb kaum. Schnell bemerkte ich, dass die
Menschen aber mehr brauchten, als nur ein Rezept. Sie bedurften der Nähe
und Menschlichkeit. Das Gefühl, dass jemand für sie da war, nicht nur für den
Körper, sondern auch für die Seele, war für sie entscheidend.
Ein Erlebnis, das mich sehr prägte, war die Begegnung mit einer älteren
Frau, die wegen Wirbelsäulenbeschwerden zu mir zur Massage kam. Ich pack-
te all mein Gefühl in die Therapie und behandelte sie als gleichwertigen Men-
schen und sah in ihr die Frau, die viele Schicksalsschläge im Leben hatte
einstecken müssen. Nach der Therapie nahm sie mich mit ihren knöchernen
Fingern am Arm, schaute mir tief in die Augen und meinte: ‚Sie geben mir das
Gefühl ein Mensch zu sein. Nicht ein altes Wrack, bei dem schon alles zu spät
ist. Ich weiß, dass mir niemand die Schmerzen nehmen kann. Aber die Mas-
sagen bei Ihnen lassen sie mich zumindest für die Dauer der Therapie verges-
sen. Ich bekomme leider keine mehr verordnet, weil ich schon zu alt bin und
leisten kann ich mir das nicht. Wir werden uns wohl nicht mehr wieder-
sehen.‘
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