Nachruf auf Elsie Slonim
von Peter Wawerzinek
Meine ersten hundert Jahre
Die Zahl hundert besang ich als Kind zusammen mit anderen Kindern. Das Lied erzählte von einem schönen Kind, das Dornröschen hieß und sich in acht nehmen sollte vor der alten Fee. Die aber kam irgendwie doch zur Tür herein und sprach zu dem Kind: „Schlafe hundert Jahre und alle mit dir.“ Dies geschah augenblicklich. Und während alles am Hofe schlief, wuchs da eine Hecke riesengroß, riesengroß um das Schloß. Die hundert Jahre gingen wie eine Nacht vorbei. Jemand sagte zu Dornröschen: „Wach auf liebes Kind.“ Und die da mit ihr ihre Augen öffneten, waren allesamt hundert Jahre älter. Ein Umstand, der mich faszinierte und davon träumen ließ, ich würde mit Dornröschen eingeschlafen sein und beim Aufwachen dann über zehn mal zehn Jahre älter.
Der erste große Roman mit dieser wundervollen Zahl hieß Hundert Jahre Einsamkeit. Ich meldete mich krank, lag im Bett und las das Buch hintereinander weg ohne zu essen, zu trinken, zu schlafen.
Es gingen viele Jahrzehnte ins Land. Hundert Jahre wurden um mich nur Betriebe, Geschäfte, Vereine und die Schmalspurbahn. Von einzelnen Menschen hieß es gelegentlich leider, und sie hätten die Zweinullen knapp verfehlt.
Meine erste Hundertjährige traf ich in Österreich. Sie hieß Elsie Slonim. Ich war zu ihrem Jubelfest eingeladen worden. Die Verbindung lief etwas früher über meinen guten Freund Alfred Woschitz an. Der schwärmte ungehalten von einem Buchmanuskript, das ihm zugespielt worden war. Meine ersten hundert Jahre der Arbeitstitel. Ich müsse es lesen. Es würde mich umhauen. Ein Vorwort werde sich danach von ganz allein schreiben. Bitte kein Nachwort! Die Elsie hat nämlich vor, noch ein paar Jährchen über die zweiten Hundert zu leben und so Einiges vor.
Ich las das Buch und schrieb begeistert, beeindruckt, niedergeschlagen und froh das Vorwort zu ihm. Das Buch kam heraus. Ein paar Zeilen von mir schmücken für immer den Einband. Elsie feiert zeitgleich Premiere und ihr Jubiläum in einer Wiener Galerie.Dort sehe ich sie zum ersten Mal. Sie sitzt nicht da, sie residiert in einem großen Sessel. Schön wie eine wundersam gealterte italienische Diva sieht sie aus. Zwei Stunden vor ihrer Lesung empfängt sie die interessierten Reporter, steht ihnen lebhaft Rede und Antwort. Und wechselt dann von ihrem Thron auf die Bühne über. Liest selber den Beginn, statt wie geplant die Schauspielerin neben ihr. Und unterbricht sich prompt. Muss, wie sie sagt, an dieser Stelle ausführlicher werden, die Sache kommentieren. Weil, ja weil so ein Buchprojekt eben etwas völlig anderes ist, als das Erzählen, man sich zu konzentrieren hat, nicht jedes Geschehen bis ins kleinste Detail beschrieben werden kann. Und reicht das Buch dann weiter. Hört nicht nur zu, geht die hundert Minuten richtig mit. Legt am Ende ihre Hand auf die der Sprecherin, sagt, man könne unendlich länger hier zusammen sein. Nimmt den Applaus hin. Verbeugt sich mehrmals. Kehrt auf ihren Thron zurück. Gibt ein Interview nach dem anderen. Lässt sich nach gut sieben Stunden ins Hotel chauffieren. Ist morgens die erste am Frühstückstisch. Hat die Nacht über beschlossen, zum Festakt das Kleid mit dem tiefen Ausschnitt zu tragen. Wird ihren Arm zur Gratulation angewinkelt am Körper belassen. Und beugt sich der lange, arme Kerl nach vorne, wird es vom Präsidenten heißen, schaut euch nur diesen Lüstling an.
So behalte ich Elsie Slonim in Erinnerung. Und ihr Lachen, das aus allen anderen Lachern hell hervor tönt.
Ö1-Sendung Menschenbilder über Elsie Slonim
So, 17.03.2019, 14:05 Uhr
Die Ö1-Sendereihe Menschenbilder widmet sich der Lebensgeschichte von Elsie Slonim.
Elsie Slonim
Vom Brot im Meer
Die ersten hundert Jahre der Elsie Slonim
Informationen zur Sendung finden Sie hier …
Peter Wawerzinek über ‚Vom Brot im Meer‘
So inhaltsschwer wie inhaltsschön und ganz ohne jede Übertreibung oder Propaganda. So bündig und kurz wie gnadenlos gerecht und hart es nur geht, werden hier Fakten zum Jahrhundert europäischer Ausgrenzung, Verfolgung, Auslöschung, Vertreibung, Krieg und Völkermord aus eigenem Erleben beschrieben.
Sich treu und der simplen Wahrheit verpflichtet, die da heißt: So und nicht anders erging es mir, schreibt sie dabei so weise wie ergreifend poetisch, so lebenserfahren kraftvoll, dass es ganz und gar einmalig in der Literatur ist. Und ist dabei auch immer einmal wieder das Quäntchen nachsichtig und milde gestimmt wie es nur diese Hundertjährige sein darf.
Peter Wawerzinek, Träger des Ingeborg-Bachmann-Preises