„Erschrecke doch, du allzu sichre Seele!“ (BWV 102)
Gedanken über das Trauern, Schweigen und Verdrängen
„Nicht darüber sprechen zu können“, war das Schlimmste. „Schweigen und Verdrängen ist die erste Reaktion, irgendwann muss man aber darüber, was passiert ist, reden, nur dann kann man das alles verarbeiten.“ (Edda Schwarz in: Bernhard Gitschtaler, Ausgelöschte Namen S.92)
Was kann es Befreienderes geben als zu erfahren, wer man wirklich ist. Allerdings nicht allein definiert durch ein landschaftliches Woher und räumliches Beheimatet sein, sondern auch als das soziale Wesen, das man idealtypisch sein möchte und zu dem man schließlich geworden zu sein glaubt. Das Wissen über die Umstände, die einen zu dem Menschen gemacht haben, der man ist, geht einher mit der das Bewusstsein verändernden Frage, was auch an Verdrängtem und Unbewussten den Menschen leitet.
Die Antwort liegt im guten Fall in einer beständigen Suche danach.
In diese Haltung fügt sich die kleine, bewegende Erzählung über die vier Söhne der Bauernfamilie Woschitz und eines ihrer Nachkommen. Unter dem Eindruck erstickter Tränen und verstummter Schreie nimmt sich Alfred Woschitz – wie es scheint, einer inneren Verpflichtung folgend – ganz im Sinne der von Alexander und Margarethe Mitscherlich beschriebenen These von der Unfähigkeit unserer Großeltern und Eltern zu trauern – des erlittenen Leids seiner Familie an, um einen Fuß in die Tür der dunklen Räume des Verdrängens und Vergessens zu stellen, und das Geschehene zu erhellen, sichtbar und begreifbar zu machen.
Seine Suche nach dem Menschsein folgt zwei unterschiedlichen Spuren, die schließlich in einer schmerzhaften Erkenntnis zusammenfinden. Die eine erzählt die grausame Geschichte, angetan einer Bauernfamilie durch den Wahn und Zynismus der Nationalsozialisten („Der Krieg fordere Opfer, von jedem von uns …“ S.44). In die scheinbar dörfliche Idylle einer holzschnittartig gezeichneten, widerständigen Familie (der Vater gilt als nicht „gesinnungstreu“, der Hitlergruß ist verpönt, die Kinder werden zum traditionellen Grüßen angehalten), bricht mit der Zwangsrekrutierung der vier Söhne die destruktive Gewalt des Naziregimes herein und zerstört eine bisher gelebte Heimat als „vertraute Landschaft, in der Geborgenheit und trotz vieler Mühsal ums tägliche Brot, [die ihr als] höchstes Gut der Welt und des Daseins“ galt.
Die andere Spur führt – ob durch Zufall oder durch „himmlisch-göttliche Regie“- den Enkel, der den Namen seines durch das Naziregime gefallenen Onkels trägt, und nach einem schweren Erdbeben in Armenien im Auftrag der UNO ein humanitäres Hilfsprojekt leitet, bei seiner Rückkehr nach Österreich, durch einem erzwungenen Aufenthalt in Südrussland zum Soldatenfriedhof von Volgorod. Unter dem monumentalen Eindruck der „Rodina-mat sowjet“ wird ihm im Nachhall des Schmerzensschreis seiner Großmutter über des in Südrussland verschollenen Sohnes die Tragweite des verbrecherischen Krieges bewusst und lässt ihn erkennen wie sehr die Verstrickungen unserer Vorfahren uns bis heute unbewusst beeinflussen und leiten. Wie der Schmerz über die bleibenden Wunden und Traumata auf Seiten aller Opfer lähmt. Im Leid über viele Generationen hinweg.
Wenn heute, fast 80 Jahre nach dem Krieg mit dem Verlust der meisten Zeitzeugen, historische Authentizität droht verloren zu gehen, stattdessen Relativierungen der Revisionisten die historischen Fakten über all das Geschehene verdrehen, Opfer-/Täterumkehr wieder zum Handwerk der Rechtfertigung erfolgten Unrechts gehört, ist dies ein weiterer Versuch der Schuldabwehr, das Vergessen und Verdrängen zur Bewältigungsstrategie zu erheben. Mit verheerenden Folgen für die Seelenlandschaft.
Sei es nun der Drang des Lebendigen oder das Vertrauen, dass das Leben letztlich doch die Oberhand behält, Menschen wollen und müssen das Leid, die körperliche und seelische Zerrüttung weiterer Generationen, die der NS-Staat mit seiner mörderischen Ideologie über Millionen gebracht hat, immer wieder neu ins Gespräch bringen.
Das Reden über die Opfer, die den unmenschlichen Vorstellungen der kranken Hirne der NS-Schergen und deren feigen Mitläufern nicht entsprachen und vernichtet wurden, ist notwendig. Auch als Bekenntnis zur Verantwortung im Erkennen der Last der eigenen Stigmatisierung. Um damit aber auch dem Gerede, es müsse doch endlich ein Schlussstrich gesetzt werden, ein striktes und vehementes Nein entgegenzusetzen.
Es ist gewiss, auf dem Misthaufen der noch immer nicht aufgearbeiteten Vergangenheit gärt neuer unsäglicher rechtsradikaler Mist.
Alfred Woschitz, Nur noch 12 Tage. Erzählung. Verlagshaus Hernals, Wien 2024; 97 S.
ISBN 978-3-903442-58-0
Axel Karner